Das metallische Knirschen des Schlosses hallte lang und laut zwischen den kahlen Wänden wider.  Er stand noch einige Zeit vor der Tür und ließ die Echos des Schlosses in seinen Gehörgängen klirren.

Er fand es sehr angenehm, in der Dunkelheit zu stehen und gar nichts zu tun. Zu sehen. Zu hören. Wobei nichts hören ja nicht stimmte. Er war ja wegen der Geräusche aus dem Raum gegangen, den Eindruck erweckend, er müsste nachschauen. Schließlich kannte er sein Refugium, seine Arena. Er kundschaftete stets sorgfältig und nahm immer mithilfe seines digitalen Voicerecorders alle Geräusche auf, die das Gemäuer machte.

Er musste grinsen. Ghostfacers! Hahaha. Er lachte still in sich hinein, der Gedanke, dass er Kameras und Stimmrekorder platzierte amüsierte ihn. Es war schon witzig, dass er mit Geisterjägerequipment auf Verstecksuche ging. So konnte die Suche sich schon mal über Monate hin ziehen, aber am Ende hatte er dann die perfekte Kulisse, die er in und auswendig kannte.

Ein leichter Schatten schlich in seine fröhlichen Züge und verfinsterte sein lieblich Antlitz kurz. Geister hatte er noch nie aufgenommen. Hoffte er aber sehr! Obwohl er sich vor Geistern fürchtete. Und vor Spiegeln. In der Dunkelheit. Was war auf der anderen Seite des Spiegels? Was es ebenfalls eine zusammenhängende Welt wie die unsere vor den Spiegeln?

Spiegel waren ihm suspekt, jeder Spiegel zeigte diese, unsere Welt ein kleines bisschen anders. Klar, das lag an der Beschaffenheit des Glases, der Spiegelfolie, der Bedampfung oder was auch die Scheibe zu einem Spiegel machte. Aber selbst identisch gefertigte Spiegel zeigten niemals die Realität. Sie zeigten nur einen Ausschnitt aus dem Bewusstsein des Hineinblickenden. Und auch nur ein kurzes Exzerpt der aktuellen Stimmungslage, der aktuellen Gehirnwellenaktivität.

Seine eigene Morphologie war alltäglicher Beweis seiner Idee. Jeden Tag sah er sich anders. Morgens war er noch unbeschwert von den Unwägbarkeiten des Tages und sah sich, so meinte er zumindest, so, wie er sich auch der Umwelt präsentierte und wie er wahrscheinlich wirklich war. Ob es allerdings stimmte, müsste er nachmessen. Dazu mangelte es ihm aber zumeist an Zeit und Muße.

Für Zweitmeinungen war sein Misstrauen zu arg. Allen und jedem gegenüber. Welchen Grund hatten fremde Leute denn auch, ihm die Wahrheit zu sagen? Fast niemand sprach die Wahrheit. Alles mögliche stand dem im Wege. Political Correctness. Falsch verstandene Rücksicht. Feigheit. Der eigene Vorteil. Sogar das eigene Selbst versuchte noch, ein Zerrbild der Realität zu vermitteln. Jeder Blick auf sich selbst, ob nun via Spiegel oder direkt oder wie auch immer war verklärt. Positiv oder negativ.

Er war recht groß. Und sehr sportlich. Trotzdem offenbarte ihm der Spiegel, jeder Spiegel, nichts dergleichen! Im Spiegel sah er wenig seiner Kraft, seiner Figur, seiner Präsenz. Doch gerade der Spiegel war sein wichtigster Bezugspunkt. Dies lag weit zurück in seiner Kindheit. Aber verfolgte ihn noch heute und würde ihm auf den Fersen bleiben wie sein eigener Schatten.

Da lag es auch begraben, dass er im Dunkeln Angst vor Spiegeln hatte und manches Mal stundenlang wach im Bett lag, den Harndrang unterdrückend, weil er sich nicht traute, im Dunkeln die Augen aufzuschlagen und möglicherweise somit in den Bann des nächtlichen Spiegels gezogen zu werden. Ihm fiel dazu nicht mal ein Lied ein. Sonst fiel ihm immer ein Lied ein. Jetzt nicht.

Nicht mal ein Film, oder eine Serie. Nichts. Wenngleich Mirrors so ein Film hätte sein müssen, kam der Film nicht annähernd an das Grausen, welches seit jüngsten Jahren die tatsächlichen Reflektionsinstrumente in ihm auslösten. Er hatte sich dazu gezwungen, diesen Film zu schauen. Und zwar aus therapeutischen Ansätzen. Konfrontationstherapie. Spiel mit Spinnen bei Arachnophobia und so. War aber nix. Wirklich nicht. Er hat sich gelangweilt, weil dieser Film keine Atmosphäre hatte. Leider oder zum Glück ließ er mal offen.